Zum Auftakt war der renommierte Osteuropa-Historiker, Journalist und Gorbatschow-Biograf Dr. Ignaz Lozo zu Gast. Sein Vortrag „Die NATO-Osterweiterung – Putins Legende vom gebrochenen Versprechen“, veranstaltet in Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, bot tiefgehende Einblicke in die politischen und historischen Entwicklungen seit 1990 und räumte mit gängigen Mythen auf, die sich insbesondere seit Russlands Angriff auf die Ukraine weiterverbreiten.
Neue Vortragsreihe
Eröffnet wurde der Abend von Dr. Anna Gisbertz, Leiterin der vhs Südliche Bergstraße. In ihrer Begrüßung stellte sie das neue Format vor: Unter dem Titel „Akademie für alle“ werde künftig jeden ersten Donnerstag im Monat eine Veranstaltung zu gesellschaftlich oder politisch relevanten Themen stattfinden.
Da die Angebote fortlaufend entwickelt werden, findet man sie eher online als im gedruckten Programmheft. Dr. Gisbertz lud das Publikum außerdem ein, das Kunstprojekt „Wortturm“ gegenüber dem Rathaus zu besuchen, das auf die nächste Veranstaltung – eine Matinee zur Demokratiebildung am 18. Oktober – hinweist und über QR-Code direkt zum Mitmachen auffordert.
Mythen und Fakten
Im Mittelpunkt des Abends stand Dr. Lozos faktenreiche Auseinandersetzung mit der These, der Westen habe Russland nach dem Kalten Krieg eine Nichtausdehnung der NATO versprochen – ein Narrativ, das von Wladimir Putin immer wieder als Begründung für seine aggressive Außenpolitik herangezogen wird. Mit Originalaufnahmen und Filmsequenzen aus seinen Dokumentarfilmen belegte er, dass es kein bindendes Versprechen gab.
Der Russlandkenner erläuterte, dass frühe Aussagen des deutschen Außenministers Genscher oder dem US-Diplomaten Davis, wonach ein vereintes Deutschland wohl nicht in die NATO integriert würde, nicht abgestimmte Einzelmeinungen aus dem Anfang der sogenannten Orientierungsphase der Wiedervereinigung waren. Erst in den anschließenden Sondierungs- und Verhandlungsphasen entstand die tatsächliche politische Linie. Russland selbst habe zu dieser Zeit sogar über einen NATO-Beitritt nachgedacht.
Wenig bekannte Fakten
„Wer wusste, dass die NATO über Jahre ein eigenes Büro in Moskau betrieben hat?“, fragte Dr. Lozo in die Runde. Nur eine Hand ging nach oben. Ein Phänomen, das er nach eigenen Angaben in ganz Deutschland beobachtet, obwohl das Büro in Moskau erst im Herbst 2021 geschlossen wurde. Dr. Lozo, der selbst lange als Korrespondent in Russland gelebt hatte, möchte mit überprüfbaren Dokumenten gegen Desinformation vorgehen. Die Verbreitung russischer Mythen zur Bedrohung durch die NATO nutzt Putin als Argument für seine Aggression gegen die Ukraine.
Kontakt nach Russland
Der Journalist hält, soweit möglich, noch Kontakte nach Russland. Wenige Kontakte äußern sich noch kritisch in Anbetracht der immer stärker werdenden Unterdrückung der Bevölkerung. Seit zuletzt auch WhatsApp-Telefonate vom Kreml technisch geblockt werden, ist Kommunikation über Telefon kaum noch möglich.
Gorbatschows Ziel
Der Historiker, der regelmäßig bundesweit zu diesem Thema referiert, stützt seine Analysen auf Interviews mit Zeitzeugen wie Michail Gorbatschow und ranghohen Militärs. Dabei wird deutlich, dass Gorbatschow – geprägt vom Schicksal seines von Stalins Schergen verschleppten Großvaters – an Recht, Ordnung und internationale Verträge glaubte.
Sein Ziel sei ein loser Staatenbund gewesen, in dem auch die ehemaligen Sowjetrepubliken ihre Bündnisse frei wählen dürften. Dass viele von ihnen sich nach Westen orientierten, habe Gorbatschow unterschätzt – ein Faktor, der zum Zerfall der Sowjetunion beitrug. Der NATO-Beitritt Deutschlands betrachtete er sachlich und als vollständig legal gemäß der Bündnisfreiheit, den der KSZE-Vertrag den ehemaligen Sowjetrepubliken zusagte.
Von Katharina bis zur Krim
Auch die gängige Behauptung, die Krim sei „schon immer russisch“ gewesen, stellte Dr. Lozo historisch richtig: Erst unter Zarin Katharina der Großen wurde die Halbinsel annektiert, die muslimischen Krimtataren wurden teils vertrieben – ein Muster, das unter Stalin wiederholt wurde.
Nur wenige Tataren kehrten Jahrzehnte später während der Perestroika zurück. Putins heutige Politik, so der Journalist, folge der Idee, wie einst Peter der Große oder Katharina die Große als „Eroberer“ in die Geschichtsbücher einzugehen.
Sachlichkeit statt Spekulation
Als aus dem Publikum Fragen zur psychologischen Motivation Putins oder einem möglichen Ende seines Regimes gestellt wurden, blieb Dr. Lozo seiner journalistischen Linie treu: Statt zu spekulieren, verwies er auf Zeitdokumente und belegte Quellen. „Mein Ziel ist Aufklärung, nicht Deutung“, betonte er.
Start für Weiteres
Mit diesem faktenbasierten und zugleich fesselnden Vortrag eröffnete die vhs Wiesloch nicht nur eine neue Veranstaltungsreihe, sondern auch einen Ort des politischen Lernens und des kritischen Dialogs.
Die „Akademie für alle“ will künftig regelmäßig Themen aufgreifen, die Demokratiebildung fördern und helfen, komplexe Zusammenhänge jenseits vereinfachter Narrative zu verstehen. (ch)