Von seiner Zeit als Handball-Torwart erzählt Cem Özdemir in letzter Zeit gerne. Damals, als er als Jugendlicher für den TSV Urach zwischen den Pfosten stand, da habe er auch viel fürs Leben und seinen Job als Politiker gelernt, geht die Erzählung. Wer hunderte Male den Ball ins Gesicht bekommen habe, der lerne, sich nicht wegzuducken.
Schwierigste Aufgabe seiner Karriere
In den nächsten Monaten dürften die Nehmerqualitäten von Özdemir noch ein paar Mal auf die Probe gestellt werden. Denn wenn ihn die Delegierten am Samstag auf dem Grünen-Parteitag in Heidenheim wie erwartet zu ihrem Spitzenkandidaten für die nächste Landtagswahl küren, dann steht der Mann aus Bad Urach wohl vor der schwierigsten Aufgabe seiner bisherigen politischen Karriere: Er soll für die Grünen nach 15 Jahren mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann die Macht sichern und zum zweiten grünen Ministerpräsidenten in der Geschichte der Bundesrepublik werden.
Mit Landespolitik hatte der 59-Jährige bislang wenig am Hut. Seit 1981 ist er Mitglied der Grünen, von 2008 bis 2018 war er Bundesvorsitzender der Partei. 1994 wurde er zum ersten Mal in den Bundestag gewählt - als erster Abgeordneter mit türkischen Wurzeln.
Am Ende sogar Doppelminister in der Ampelregierung
Auf Ärger um dienstlich gesammelte, aber privat genutzte Bonusmeilen und einen Privatkredit folgte ab 2002 eine bundespolitische Auszeit in den USA und Brüssel. Von 2004 bis 2008 war Özdemir Mitglied im EU-Parlament, seit 2013 saß er wieder im Bundestag und holte 2021 im Wahlkreis Stuttgart I mit 40 Prozent der Erststimmen das Direktmandat.
Im Ampel-Kabinett von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wurde er Landwirtschaftsminister. Als solcher stand er im Proteststurm von Bauern, als die Bundesregierung die Subventionen für den Agrardiesel abschaffen wollte. Auch sonst bescheinigen ihm Kritiker eine magere Bilanz. Nach dem Bruch der Koalition übernahm er zusätzlich das bis dahin FDP-geführte Bildungsressort. «Ein Gehalt, zwei Ministerien: Spart den Steuerzahlern Geld», witzelte Özdemir damals.
Politische Erfahrung hat er also im Vergleich zu seinem mehr als 20 Jahre jüngeren CDU-Konkurrenten Manuel Hagel über viele Jahre gesammelt - und auch für den Wahlkampf im Südwesten bringt er einiges mit. Bei Terminen in Baden-Württemberg lässt der selbst ernannte «anatolische Schwabe» gerne mal seinen Dialekt durchscheinen. Dem VfB Stuttgart drückt er regelmäßig auch öffentlichkeitswirksam die Daumen, weswegen sie ihn bei der Konkurrenz aber auch gerne mal einen Selbstdarsteller nennen.