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Ein raumfüllendes Klangerlebnis

Violinistin Carolin Widman

Rita Weis

Violinistin Carolin Widman

Violine, Chor und ein Mischpult

Man hörte sie schon, bevor man sie sah: Fünf schwarz gekleidete Sänger und zwei Sängerinnen betraten - ein lateinisches Madrigal singend und im Gleichschritt dumpfen stampfend - den Raum. Es wirkte mystisch, surreal, ein wenig bedrohlich. Sie durchschritten den Zuschauerraum und stellten sich dann in der Mitte im Kreis auf. Da stand auch der Tisch mit Mischpult und Computer des Klangregisseurs Michael Acker. Undefinierbare Geräusche ertönten in der Ferne, dazu mischte sich zaghaft eine Violine; sie kam näher, wurde beharrlicher. 

Eine ebenfalls schwarz gekleidete Violinistin, Carolin Widman, hatte sich fast unbemerkt auf der rechten Seite des Raums positioniert und mischte sich in die Geräuschkulisse ein. Weitere Violinen und Geräusche erklangen leise, schwollen an, schwebten durch den Raum, von links nach rechts, verharrten kurz in der Mitte des Raums, um irgendwo wieder zu verhallen. Wieder setzte der Chor ein. Dies ist nicht der Beginn eines retrofuturistischen Schauspiels, sondern ein Konzert des Freiburger SWR-Experimentalstudios in Kooperation mit der Schola Heidelberg unter der Leitung von deren Gründer Walter Nußbaum: „La lontananza nostalgica utopica futura“ von Luigi Nono (1924 - 1990) wurde am 23. Mai im Konferenzsaal des nördlichen Schlosszirkels aufgeführt. Die Schola Heidelberg ist ein international tätiges Solistenensemble für Neue Vokalmusik mit wechselwirkendem Bezug auf Werke des 16./17. und des 20./21. Jahrhunderts. Der Titel „La lontananza nostalgica utopica futura“ lässt sich interpretieren als „Nähe und Distanz, erinnernde und utopische Kraft der Ferne“, wie dem sehr informativen Programmheft zu entnehmen ist. Der Zusatz „Madrigale per piu ‚caminantes’“ weist darauf hin: „Wanderer, es gibt keine Wege nur das Gehen.“ Wie kann die in der Gegenwart reflektierte Vergangenheit eine kreative Utopie hervorbringen? Diese Frage zielt nicht auf eine konkrete Antwort, sondern auf eine Auseinandersetzung, einen Weg. Es war ein Spätwerk des politisch engagierten Komponisten. Der Venezianer Luigi Nono hatte ein besonderes Verhältnis zu dem 1968 gegründeten SWR-Experimentalstudio, denn hier begann er im Jahre 1980 seine Klanguntersuchungen und komponierte bis 1989 nahezu sein gesamtes Spätwerk. 

Kontrastierende Dialoge

Der Eingangschor war ein modernes Marienlied nach einem alten Text. Die Komposition stammte von dem zeitgenössischen spanischen Künstler José-Maria Sanchez-Verdú, der einen Bogen spannte zwischen mittelalterlicher und zeitgenössischer Musik als Zeichen modernen künstlerischen Zeit-Bewusstseins.

Er bereitete vor auf die wechselnde, kontrastierende Abfolge von alten Chorälen aus der Zeit der Renaissance und neuen abstrakten Klangwelten. Diese bestanden aus flirrenden, flatternden, zirpenden, leisen, dann wieder zum Orchester anschwellenden, sich wieder verflüchtigenden Tönen, undefinierbaren Alltagsgeräuschen, Saiteninstrumenten und Stimmfetzen. Die Violine setzte ein, vermischte sich mit ihrer Umgebung, widersprach, verschwand, kam zurück mit neuen Klangfarben, mal zart, mal aggressiv, mal gebunden, gestrichen, mal Pizzicato. Die abwechslungsreiche Interaktion von live eingesetzter Elektronik durch Klangregisseur und Violine forderte von beiden Agierenden höchste Konzentration, wie Michael Acker nach dem Konzert erklärte. Am Ende ihres jeweiligen Spiels bewegte sich Carolin Widman leise durch den Zuhörerraum hin zu einer neuen Position - auch sie, eine Wandernde. Die weiteren Gesänge des Chors waren weltlich: Madrigalen und Chansons, italienische und französische Liebesklagen der Renaissance-Künstler Josquin Desprez, Guillaume de Machaut und Luca Marenzio. Das letzte Stück des Chores war wieder geistlicher Natur „Lux aeterna“ aus dem Gedenk-Requiem Jean Richaforts für Josquin Desprez. Nono hatte sich zwar keiner Religionsgemeinschaft angeschlossen, war aber visionärem und utopischem Denken gegenüber stets aufgeschlossen. 

Raumerlebnis

Die Tonaufnahmen zu „Lontananza“ überließ Nono dem Studio, und Tonmeister Michael Acker setzte die digitalisierte Ausgabe auf acht Kanälen in einem eigens dafür gebauten Mischpult in der Schwetzinger Aufführung ein. Um das Raumerlebnis wirkungsvoll zu ermöglichen, waren die Zuschauerplätze quasi um Mischpult und Chor arrangiert. Insgesamt zehn Lautsprecher - sechs im Zuschauerraum und jeweils vier in den Räumen davor und dahinter, wobei die Türen zu den Räumen offenstanden,  - vermittelten die Klangbewegungen quasi aus nah und fern. Es war ein vollendetes mehrdimensionales akustisches Raumerlebnis und im Rahmen des diesjährigen Festivals ein herausragendes Event. Das Publikum im vollbesetzten Tagungssaal im Nordzirkel des Schwetzinger Schlosses lauschte leise, gespannt und hingebungsvoll den diversen und diffusen Klängen, die den Raum füllten und belebten. Dann aber zollten die Konzertbesucher*innen dem Ensemble begeisterten und lautstarken Applaus. (rw)

Das Ensemble zieht Publikum in seinen Bann

Rita Weis

Das Ensemble zieht Publikum in seinen Bann