Alles, was die Welt bewegt
Die Würde des Menschen ist unantastbar: Das Feiern des Grundgesetzes in diesen Tagen ist allgegenwärtig. Ist die Glocke im Schöneberger Rathaus - 1950 installiert - mit der Inschrift nur noch ein Relikt aus vergangener Zeit mit anderen hehren Werten? Doch wie ist in Wahrheit unsere heutige Welt? Ist nicht Lüge und Verzerrung, Auslegung und bewusste Manipulation in den (sozialen) Medien, die den Menschen nur noch als solches missbraucht, das, was uns täglich begegnet? Ist der Anfang eines Krieges nicht die Aufgabe der Wahrheit? Oder war die Lüge schon vorher?
Solche Fragen verknüpft mit Fragen des Alltags oder der großen Weltpolitik ist der Inhalt des letzten Abends bei den Festspielen mit. Nico and the Navigators unter der Regie von Nicola Hümpel, die das Ensemble 1998 in Dessau gegründet hat und mit ihrer bildhaften Sprache schnell internationales Aufsehen erregte. Diese neue Produktion steht unter der dramaturgischen Leitung von Andreas Hillger. Mit all den Bildern im Kopf von rechten Diktatoren, kaltblütigen menschenverachtenden Regimes, Gewalt und Übergriffen täglich auf den Straßen bis hin zu Kampf und Krieg, Fragen zur ehemaligen DDR, zu Parteien links und rechts der demokratischen Mitte wie die AfD, Diskriminierung der, Hautfarbe und des Geschlechts. Nico und sein Team bringt alles auf die Bühne. Schauspielerisch dargestellt, tanzbar, beredet, musikalisch untermauert, mit Musik um das Thema von Händel bis heute. „Darf man noch sagen, dass man nicht alles sagen darf?“ Die Fragerunde, an der alle Schauspieler, Tänzer und Musiker beteiligt waren, ist beeindruckend.
Unter die Haut
Zumal unsere Welt durchaus von einer KI reproduziert werden kann. Doch irgendwas fehlt. Auch daran erinnert die weibliche Stimme, dargestellt von Annedore Kleist, das Gewissen, die Stimme aus dem Inneren, die „Halt“ und „Vorsicht“ ruft. Ist doch noch etwas übrig vom Menschsein? Von Verständnis, Mitleid und Empathie im zwischenmenschlichen Bereich und vom christlichen Leitbild? Bei all der epidemischen Verbreitung von sexistischen Anfeindungen, den Gewalttaten auf offener Straße unter Jubel des Plebs? Tanzbare Szenen wie ein Wettrennen (die wunderbare Yui Kawaguchi, Martin Buczko, Florian Graul), eine Mann-Frau-Beziehung, eine kämpferische Straßenszene, eine „Hallo-Begegnung - Wer war das nochmal?“ werden untermauert mit einer exzellenten Kameraführung, Videoprojektionen (Diego Muhr, Robin Plenio) und optische Illusionen (Oliver Proske) und natürlich mit Musik unter der Leitung von Paul Hübner und Tobias Weber. Anne-Sophie Bereuter an der Violine, Jo Ambros an der Gitarre, Paul Hübner an der Trompete, Mathis Bereuter am Klavier und Lucas Johnson am Schlagzeug. Die beiden letzteren singen auch. Ihre Lieder „In the morning“ von Ralph Vaughan Williams und „Eve of Distruction“ von Barry McGuire gehen unter die Haut. Beeindruckend auch der tiefe Bass von Andrew Munn sei es Barock oder Moderne, und der Sopran von Peyee Chen und ihr schauspielerisches Können. Alle Musikstücke wurden passend zu dem Thema Wahrheit und Lügen ausgesucht: von Dmitri D. Schostakowitsch „Truth“, Fleetwood Mac „Little Lies“, Stücke von Frédéric Chopin, György Ligeti, Jacques Offenbach, Leonard Cohen „Anthem“ und zum Ende John Lennons „Gimme Some Truth“. Mit der bildhaften Assoziation von Yoko Ono und John Lennon im Bett für Frieden demonstrierend endet der Abend im gemeinsamen Kuscheln - wenn es doch so einfach wäre. (aw)