„Die Ungleichzeitigen“ titelt der Roman von Philipp Brotz. Im Rahmen des literarischen Mai hat der Freiburger Schriftsteller und Gymnasiallehrer Philipp Brotz aus seinem zweiten Werk gelesen. Protagonist Hagen ist Anfang dreißig. Er studiert in Berlin, nicht ganz freiwillig, sondern dem Geheiß des Vaters folgend, der sich gegen Hagens Studien-Wahlort Tübingen und für Berlin ausspricht.
Aus dem Schwarzwald nach Berlin
Die weite Welt soll der Junge kennenlernen, das Heimatdorf Löwenau, im Schwarzwald, verlassen, um selbstständig und ein Mann zu werden. In der Hauptstadt fühlt sich Hagen heimatlos.
Nach dem Tod der Eltern kehrt er nach Löwenau zurück, will dort an sein früheres Leben anknüpfen. Er ist bestürzt, nichts ist mehr so, wie es einmal war. Der Schlüssel passt nicht mehr ins Schloss des Elternhauses, sein ehemaliger Schulkamerad, zufällig als Schlüsseldienst vor Ort, erkennt ihn nicht mehr. Im Dorf ist er in Vergessenheit geraten, das Elternhaus sieht längst nicht mehr so aus wie früher, der geliebte Garten hat sein Gesicht völlig verändert. Der Wald, Dreh- und Angelpunkt seiner Kindheit, ist teilweise schon abgeholzt, dort sollen Flüchtlingsunterkünfte entstehen.
Brotz erklärt, was es mit den Ungleichzeitigen auf sich hat, dass man an einen Ort reise, zeitgleich aber einen anderen Ort in sich trage. In Berlin fühlte sich Hagen heimatlos und einsam, zurück in Löwenau sucht er seine Wurzeln und fühlt sich ziemlich fremd. Er versucht die Zeit zurück zu drehen. Anhand alter Fotos möbliert er das Elternhaus wieder so, wie es früher einmal war. Ledercouch raus, Stoffsofa rein. Auch den Garten dreht er auf links, alles zurück auf Anfang. Heimat scheint verortet mit Erinnerungen zu sein. Und dann trifft er auf Flüchtlinge, politisch motiviert sei er nicht, dennoch gibt er sich argwöhnisch, skeptisch. Völlig betrunken nimmt die Geschichte für Hagen eine Wendung.
Beim Haus der Fremden, einer Flüchtlingsunterkunft am Ort, trifft er auf Adana, eine junge Jesidin, die ihm hilfsbereit zur Seite eilt, ihn aus seiner misslichen Lage befreit, sein Hemd von Erbrochenem säubert. Die beiden kommen ins Gespräch. „Weißt du, wie es ist, wenn man alles verloren hat“, fragt Hagen die junge Frau und sie erzählt von ihrem Schicksal, berichtet von Flucht und Vertreibung, von Krieg, Angst und dem Verlust der Heimat und ihrer Eltern. „Morgen bin ich nicht mehr betrunken, aber du bist immer noch schön“, sagt Hagen.
Alle haben viele Probleme
Seine Probleme sind groß, er hat sich mit den Umbauten an Haus und Hof sowie Börsenspekulationen komplett verschuldet, die Zwangsversteigerung steht an, der Verlust des Reststückchens Heimat droht. Durch Adana lernt er weitere Asylbewerber kennen und fasst einen gewichtigen Entschluss: Vier Geflüchteten bietet er eine Unterkunft in seinem Elternhaus, die Mieteinnahmen sind die Lösung seiner Probleme. Aber Hagen beginnt auch umzudenken, findet sozusagen eine neue Heimat im Kreis der eigentlich Fremden in seinem Heimatort.
Im Gespräch mit Schriftstellerin Tina Stroh Stroheker wird klar, dass Philipp Brotz sich seit vielen Jahren mit dem Schicksal der Jesiden beschäftigt und daraus seinen Roman „Die Ungleichzeitigen“ entwickelt hat. Auch die Besucher beteiligen sich rege am Gespräch, nicht nur mit Fragen, sondern auch mit eigenen Erfahrungen im Umgang mit Heimatlosigkeit und Flüchtlingen. irs