Jeder kennt die Situation, wenn man sich in den Finger schneidet. Der Finger schmerzt, ist warm, etwas geschwollen und lässt sich nicht gut im Alltag nutzen. Warum aber empfindet man Schmerz auch dort, wo vielleicht gar keine Verletzung vorliegt?
Schmerz als Alarmanlage
In der Regel verspürt der Mensch dann einen Schmerz, wenn entweder eine tatsächliche Schädigung vorliegt oder zumindest eine Verletzung droht. Dieser akute Schmerz hat eine schützende Funktion, um eine Gewebeverletzung zu verhindern oder die betroffenen Körperstrukturen zu entlasten, so auch bei einer Schnittverletzung. Durch die Schwellung und den Schmerz stellt der Körper sicher, dass für den Finger eine ideale Heilungsumgebung geschaffen wird. Mit fortschreitender Heilung wird der Finger dann wieder belastbarer und der Schmerz nimmt ab. Dieser kluge Mechanismus funktioniert auf diese Art und Weise überall im Körper. Der Mensch hat durch ihn eine eingebaute intelligente Alarmanlage, die genaue Rückmeldung über die momentane Belastbarkeit gibt.
Allerdings kann es in manchen Fällen dazu kommen, dass dieses Schutzsystem seine Aktivität über das normale Maß erhöht. Man spricht dann von einem übersensiblen, also übermäßig schützenden und kontrollierenden System. Wichtig: Nach wie vor versucht der Körper, sich selbst zu schützen! Der entscheidende Unterschied ist: Der Schutz geht über die Zeit der Wundheilung hinaus.
Die Wissenschaft ist sich noch nicht sicher, welche Faktoren genau an der Entstehung und Aufrechterhaltung von langanhaltenden Schmerzen beteiligt sind. Diskutiert werden unter anderem Einflüsse wie Genetik, Gewebezustand, Angst, Stress, schlechter Schlaf, Depressionen und viele weitere. Vor allem, was ein Mensch über seine Beschwerden denkt, wie er damit umgeht, wie er sich fühlt und wie stark er dadurch in seinem Alltag eingeschränkt ist, wird für Wissenschaftler immer interessanter.
Anzeichen dafür, dass jemand ein übermäßig sensibles und schützendes Alarmsystem hat: plötzlich spürt man Schmerz an eigentlich „gesunden“ Stellen; der Schmerz wandert normalerweise schmerzfreie Bewegungen werden auf einmal schmerzhaft, leichte Berührungen und Druck sind auf einmal schmerzhaft.
Schmerz entsteht im Gehirn
Nicht immer tut etwas weh, obwohl eine Verletzung vorliegt, und oft liegt eine Verletzung schon sehr lange zurück und trotzdem empfindet derjenige weiterhin Schmerzen. Wie kann das sein? Mit dem klassischen Verständnis von Schmerz lässt sich diese Tatsache schwer erklären. Stattdessen ist sich die Schmerzforschung mittlerweile sicher, dass das körpereigene Alarmsystem vom Gehirn gesteuert wird. Kommt dieses zum Entschluss, dass eine Situation bedrohlich ist, wird Schmerz generiert. Das bedeutet allerdings nicht, dass eine Verletzung oder eine potenzielle Schädigung irrelevant sind. Der Körper besitzt überall Rezeptoren, die durch zu starke mechanische, chemische und thermale Reize eine Gefahreninformation an das Gehirn senden. Das heißt: Der Mensch besitzt keine Schmerzrezeptoren, sondern lediglich Gefahrensensoren. Am Ende entscheidet das Gehirn, ob diese Information in der jetzigen Situation relevant ist und Schmerz als Konsequenz entsteht. Für jeden Menschen sind dabei die Faktoren individuell und zu unterschiedlichen Anteilen an der Entstehung von Schmerz beteiligt.
Was ist ein Schmerzgedächtnis?
Eine klare Definition für das Schmerzgedächtnis gibt es nicht. Stattdessen wird der Begriff oft verwendet, um auf die Veränderungen innerhalb des Schmerzsystems aufmerksam zu machen. Der Prozess, der zur Ausbildung eines Schmerzgedächtnisses führt, ist wie bereits erwähnt, noch nicht in seiner Gesamtheit verstanden. Vereinfacht gesagt, stellt sich der Vorgang aber folgendermaßen dar: Der Körper wird besser in all den Dingen, die er mehrmals wiederholt. So funktioniert zum Beispiel auch Lernen oder Training. Und das Gleiche passiert auch bei Schmerzen. Ohne zu tief in die genauen Vorgänge einsteigen zu wollen, kommt es bei langanhaltenden Schmerzen zu Veränderungen an der schmerzenden Stelle, im Rückenmark und im Gehirn.
Je mehr Bedeutung den Schmerzen beigemessen wird, je öfter sie ausgelöst werden und je länger sie anhalten, umso mehr Informationen fließen zum Gehirn und vom Gehirn weg und umso leichter lösen Reize dadurch einen erneuten Schmerz aus. Da Schmerz immer eine bewusste Empfindung ist, die oft zusammen mit speziellen Situationen, Bewegungen, Gedanken und Gefühlen auftritt, lernt das Gehirn nicht nur Schmerzen leichter zu produzieren, sondern verknüpft ebendiese Emotionen, Situationen und Bewegungen mit Schmerz. In manchen Fällen ist es ausreichend, dass allein der Gedanke an die Bewegung oder an die Verletzung die gleichen Schmerzen wieder auslöst. Im Gehirn sind dabei dieselben Areale aktiv.
Was tun gegen ein übersensibles Schmerzgedächtnis?
Das Beste zu Beginn: Ja, es gibt Möglichkeiten, diesen Zustand zu ändern. Da das Schutzsystem in manchen Fällen zu sensibel ist, ist das Allerwichtigste, diese Funktionen wieder zu normalisieren. Das klingt in der Theorie sehr leicht. Es braucht Zeit und viel Durchhaltevermögen, Dinge Schritt für Schritt zu ändern und wieder mehr Vertrauen in den Körper zu entwickeln. Die Beschwerden entwickeln sich über einen längeren Zeitraum. Bewegungs- und Verhaltensweisen schleichen sich mit der Zeit ein. Oft werden Aktivitäten vermieden und Hobbies, die einmal Freude bereitet haben, eingestellt. All das verstärkt und unterhält unter Umständen das Problem. Häufig gibt es in diesem Prozess Rückschläge. Außerdem sind die Schmerzen gelegentlich kaum spürbar und im nächsten Moment wieder wahnsinnig stark. Obwohl das schnell zu Missmut führt, ist es tatsächlich ein sehr gutes Zeichen. Es zeigt dem Betroffenen, dass der Schmerz sich ändern lässt und kein unveränderlicher Zustand ist.
Ein wichtiger erster Schritt zur Besserung ist, zu verstehen, dass Schmerz in so einem Falle keine Verletzung bedeutet und es dem Körper nicht schadet, sich zu bewegen. Eine schrittweise, kontrollierte Rückkehr zu bedeutenden Aktivitäten ist möglich, und ein Bewegungsprogramm zur Belastbarkeitssteigerung hilft dabei. Dadurch können hinderliche Überzeugungen und Einstellungen bezüglich Schmerzes und Belastung infrage gestellt und umgedeutet werden. Neben spezifischen Maßnahmen hilft es zudem, die Schlafqualität zu steigern und die allgemeine Fitness zu verbessern. Unter Umständen kann es auch sinnvoll oder sogar nötig sein, mit psychotherapeutischer Hilfe an bestimmten Denk- und Verhaltensweisen zu arbeiten. Langanhaltende Schmerzen müssen nicht ausgehalten werden, sondern können sich ändern. Das zeigen zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen!