Es ist ein herbstlicher Abend in der ehemaligen Freien Reichsstadt Weil der Stadt. Die riesige Statue des berühmten Astronomen Johannes Kepler thront über dem Marktplatz und beobachtet stumm das Treiben in den Straßen und Gassen seiner Geburtsstadt. Es dämmert bereits, als die Kirchturmuhr 20 Uhr schlägt. Das ist für den Nachtwächter das Zeichen, jetzt geht es auf Tour.
Mit Hellebarde, Horn und Laterne ausgerüstet, nähert er sich den Rathausarkaden, wo er schon von seinen Begleitern für den Abend erwartet wird. Publikum für das historische Erlebnis in Weil der Stadt gibt es eigentlich immer. Das erlebt man schließlich nicht jeden Tag. Einfach über die Stadt- & Tourist-Info anmelden und schon taucht man ein in längst vergangene Zeiten.
Dynamisches Duo
In Weil der Stadt ist Nachtwächter Manfred Nittel – und bis vor Kurzem auch sein leider verstorbener langjähriger Kollege Gerd Diebold – seit über 20 Jahren im „Dienst“. Historisch gewandet und mit viel Wissen im Gepäck, führt Nittel Neugierige in den Abendstunden durch die Straßen und Gassen. Doch sollte man sich zu Beginn vergewissern, ob unter dem Umhang und dem Schlapphut tatsächlich ein Mann steckt, denn als allererstes erfährt man, dass es im Mittelalter durchaus vorkommen konnte, dass die Frau des Nachtwächters heimlich seinen Dienst verrichtete, wenn dieser krank oder auch mal zu betrunken war.
Doch an diesem Freitagabend ist es ganz sicher Manfred Nittel, der pünktlich zur vollen Stunde in sein Horn bläst und damit wie alle 14 Tage den Nachtwächterrundgang eröffnet. Ihm folgen Erwachsene und nicht selten auch Kinder, die zwar vielleicht nicht alles aus der Geschichte verstehen und einordnen können, aber doch sehr viel Freude an der historischen Figur und den lebhaften Berichten haben.
Dunkle Kapitel
Wenn er im Städtle für Sicherheit sorgt, ist der Nachtwächter nicht zimperlich. Das kann er sich auch gar nicht leisten, denn: „Wir haben es immer wieder mit höchst lichtscheuem Gesindel zu tun.“ Dunkle Kapitel gibt es in der Stadtgeschichte schließlich auch. Das wird deutlich, wenn Nittel über Rechtsprechung und Bestrafungen spricht. Im Alten Rathaus tagte das Hohe Gericht. Dort wurden Diebe, Mörder, Falschmünzer, Brandstifter und Hexen abgeurteilt und dem Scharfrichter zur Vollstreckung der Strafen freigeben. Übrigens gehörte die Mutter von Johannes Kepler zu den der Hexerei verdächtigen Frauen. Ihr blieb der Feuertod erspart, weil ihr Sohn kein Unbekannter war. Viele andere Frauen hatten dieses Glück nicht.
Der Nachtwächter nimmt die Gruppen mit zu den wichtigsten Stationen in Weil der Stadt: Vom Marktplatz aus geht es vorbei am alten Rathaus, zum Calwer Tor, zur Zehntscheuer, dem oberen Tor, dem Winzerhaus, dem Spitalhof und natürlich dem bekannte Klösterle. Der Fremdenführer der besonderen Art zeigt den Teilnehmern die Weiler Wirtshäuser – und plaudert aus dem Nähkästchen. So war der letzte bekannte Falschmünzer der Löwenwirt Debler. Der hat falsche Münzen hergestellt und durch seine Tochter in den Umlauf gebracht. Es kommt aber noch dicker: Der damalige Bürgermeister steckte mit Debler unter einer Decke und flüchtete mit der Stadtkasse.
Und wer denkt, Johannes Kepler sei der einzige „Promi“ aus Weil der Stadt, der irrt. Der Reformator Johannes Brenz wurde ebenfalls hier geboren. Sein Geburtshaus ist auch Teil der Tour.
Finale am Rabenturm
Der Nachtwächterrundgang in Weil der Stadt endet nach knapp zwei Stunden am Rabenturm. Ein beeindruckendes Bauwerk – ein halbrunder mit Fachwerk verschlossener Wachturm mit Satteldach in der südlichen Stadtmauer – mit trauriger Geschichte. In der dortigen Türmerwohnung brach 1893 ein Feuer aus, bei dem drei Kinder starben.
Bei aller Tragik, die eine lange Stadtgeschichte oft mit sich bringt, ist der Rundgang mit dem Nachtwächter in Weil der Stadt immer von Humor geprägt. Wer mit dabei ist, wird garantiert durch die herrlichen und frechen Anekdoten zum Lachen gebracht. Die sympathische Art der besonderen Fremdenführer tut ihr übriges. Das Fazit zum Rundgang: Absolut unterhaltsam, lehrreich und empfehlenswert.
Mehr über die Weil der Städter Nachtwächter
Genau am 19. Juli 2002 wurden Manfred Nittel und Gerd Diebold († 2024) vom damaligen Bürgermeister Hans-Josef Straub vereidigt. Seither sorgten sie im Städtle für Ruhe und Ordnung und führen Touristen in den Abendstunden entlang historischer Gemäuer.
Übrigens, das historische Vorbild ist Franz Schöninger, der letzte offizielle Nachtwächter in Weil der Stadt, der sein Amt bis etwa 1950 ausübte. Umso schöner, dass es wieder mit Leben gefüllt wurde. Um die Nachtwächter und ihr Tun in Weil der Stadt zu würdigen, wurden sie auch auf besondere Art verewigt: Ein bisher namenloses Gässle bekam den Namen „Nachtwächtergässle“.
Mehr zu den Nachtwächtern in BW gibt es in folgendem Artikel: