Worum ging es bei Gericht?

Eine Autofahrerin und eine Radfahrerin waren auf einer Landstraße, die zwischen Feldern hindurchführt, kollidiert. Die Autofahrerin war auf gerader Strecke mit etwa 60 bis 70 km/h unterwegs gewesen, erlaubt waren 100 km/h. Die Radfahrerin war von links kommend auf diese Straße eingebogen und vor das Auto geraten. Dabei erlitt sie erhebliche Verletzungen. Die Einmündung war durch Bäume und Sträucher unübersichtlich, es galt „rechts vor links“. Beide verklagten sich gegenseitig auf Schadenersatz. Die Radfahrerin gab an, verletzungsbedingt jede Erinnerung an den Unfall verloren zu haben. Der Hergang – einschließlich der gefahrenen Geschwindigkeit und der Bremswege – ließ sich jedoch durch einen Sachverständigen rekonstruieren.

Der Beschluss

Dem Gericht zufolge war die Radfahrerin für den Unfall allein verantwortlich. Sie habe keine Ansprüche gegen die Autofahrerin. Diese sei mit 60 bis 70 km/h deutlich unterhalb der zulässigen Höchstgeschwindigkeit unterwegs gewesen. „Das Gericht erklärte, dass es für die Autofahrerin keinen Grund gegeben hat, auf gerader Strecke langsamer zu fahren oder vor der Einmündung auf unter 60 km/h abzubremsen“, erläutert Michaela Rassat. „Grundsätzlich dürfen sich Verkehrsteilnehmer darauf verlassen, dass andere die Vorfahrtsregeln beachten. Mit unerwartet von der Seite auftauchenden Hindernissen hat die Autofahrerin hier nicht rechnen müssen.“

 

Gerichtshammer und Richter im Hintergrund

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Das Oberlandesgericht Hamm urteilte in diesem Fall am 2. Januar 2018.

Dem Gericht zufolge kam es deswegen auch auf die Unübersichtlichkeit der Einmündung durch Bäume und Büsche nicht an. Die Autofahrerin habe beim Auftauchen der Radfahrerin sofort reagiert und ein Bremsmanöver eingeleitet. Sie habe nicht gegen Verkehrsregeln verstoßen und auch das allgemeine Rücksichtnahmegebot aus § 1 der Straßenverkehrsordnung nicht verletzt. „Das Einzige, was hier eine Haftung der Autofahrerin begründen könnte, wäre die sogenannte Betriebsgefahr des Pkw gewesen – also die Gefahr, die nur dadurch entsteht, dass jemand ein Auto auf der Straße bewegt“, erklärt die Juristin. Dem Gericht zufolge trat die Betriebsgefahr jedoch vollständig gegenüber der Vorfahrtsverletzung in den Hintergrund. Die Beachtung der Vorfahrt sei eine Grundregel im Straßenverkehr. Ein Vorfahrtsverstoß sei schwerwiegend. Aufgrund des erheblichen Eigenverschuldens der Radfahrerin musste diese daher allein für die Unfallfolgen haften.

(Oberlandesgericht Hamm, Beschluss vom 2. Januar 2018, Az. 7 U 44/17)

 

Was bedeutet das für Verkehrsteilnehmer?

Viele Verkehrsteilnehmer gehen davon aus, dass bei einer Kollision „Rad gegen Auto“ immer automatisch der Autofahrer haftet. „Dies ist jedoch nicht der Fall“, erklärt Michaela Rassat. „Vielmehr sehen sich die Gerichte die jeweiligen Beiträge der Beteiligten zum Unfallgeschehen sehr genau an.“ Daher haften auch Radfahrer, wenn sie durch die Missachtung von Verkehrsregeln einen Unfall verursachen. In manchen Fällen – wenn der Autofahrer keinerlei Mitschuld am Unfall trägt – haftet der Radler sogar allein. „Bei derartigen Unfällen kommt es oft zu erheblichen Verletzungen, sodass der teure Blechschaden des Unfallgegners schnell die geringste Sorge ist. Umso wichtiger ist es, sich auch als Radfahrer an Vorfahrtsregeln und Ampeln zu halten und auf die übrigen Verkehrsteilnehmer zu achten“, ergänzt die Rechtsexpertin.