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Die "Volkszählung"

Glosse Christoph Sonntag Teil 1

Glosse Christoph Sonntag Teil 1 Volkszählung

Getty Images / MarioGuti

Glosse Christoph Sonntag Teil 1 Volkszählung

Am Mittwoch, 27. April 1983 startete die erste Volkszählung in Deutschland. Ich studierte damals in München und lebte in einer WG mit lauter Staatsfeinden. Heute haben sie alle längst die Firma ihres Vaters übernommen, haben viele Angestellte und gehen alle zusammen demnächst in Ruhestand, aber damals war der Staat unser Gegner und wir seine mächtigsten Feinde. Uns war schlagartig klar, dass wir diese Volkszählung zusammen mit Günter Grass, Konstantin Wecker und anderen boykottieren werden, und zwar mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen.

Unser Plan war genial: jeder hatte eine konspirative Rolle zugeteilt bekommen, die er dann, wenn der Volkszähler an der Türe klingeln würde, spielen wird: Ich zum
Beispiel war der schwäbische Freund eines Freundes eines Mitbewohners. Von ihm habe ich für wenige Tage den Schlüssel bekommen. Ich kenne hier niemanden, kann also gar nichts sagen. Trixi war die Putzfrau und Bernhard der Kumpel, den die WG gebeten hat, ob er nicht den verstopften Abfluss im Klo reparieren könnte. Und gerade hat er sich diesen Kack genauer angeschaut, wollen Sie mal sehen?

Losgehen sollte unser Kampf gegen den Staat am Mittwoch, 27. April.

Am Dienstag, 26. April war ich alleine in der WG und es klingelt an der Türe. Ich spickelte durch den Türspion und sah - ein engelsgleiches Wesen. Ein schlankes, hübsches Mädchen mit blonden Locken und wachen hellen Augen. Ich habe natürlich sofort aufgemacht. „Hallo!“ sagte ich, „wer bist du denn?“

„Ich bin die Volkszählerin!“ antwortete sie.

Wie konnte ich damit rechnen, dass unser Feind, der Staat, so raffiniert ist, dass er als Volkszähler meine potenzielle Ehefrau schickt? Für mich war ein Volkszähler ein alter hässlicher Typ, aalglatt, staatsdevot und angepasst, einer, der nach Schweiß riecht, einen Pickel auf der Stirn und Haare aus der Nase wachsen hat.

Ich bat die Schönheit in unsere WG herein, bot ihr einen Kaffee an und wir setzten uns an den Küchentisch.

Sehr schnell lenkte sie die Unterhaltung auf Ihre Fragen, die sie dringend beantwortet haben möchte. Es waren völlig belanglose Fragen - wer hätte so einer Schönheit die Antwort verweigern können? Also habe ich ihr gerne alles, was sie wissen wollte, in ihren Fragebogen diktiert.

Nach 20 Minuten musste sie leider weiter. Ich hätte sie gerne nach ihrer Handynummer gefragt. Aber es gab damals noch keine Handys.

Tags drauf begann die heiße Phase unseres Kampfes. Wir übten immer wieder die Situation, die eintreten kann. Einer klingelte an der Tür und der andere spielt seine
Rolle. Wir waren fit und hätten dem Staat gezeigt, was eine Harke ist.

Keiner kam. Im Sommer dieses Jahres waren wir dann überzeugt, dass sich der korrupte Start unserem Widerstand gebeugt hatte.

Später dann, am Donnerstag, 15. Dezember 1983, fällte das Bundesverfassungsgericht im sogenannten „Volkszählungs-Urteil“ eine Entscheidung, die als Meilenstein des Datenschutzes galt und gilt und formulierte zum ersten Mal das „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“.

Am Samstag drauf machten wir eine Riesenparty bei uns in der Wohngemeinschaft und luden alle anderen Mitkämpfer dazu ein. Bei Ihnen war der Volkszähler
aufgetaucht, nur vor unser WG hatte er offensichtlich zu große Angst gehabt. Egal, unser gemeinsamer Widerstand war die Voraussetzung dafür, dass die Volkszählung scheitern musste.

Mit dieser Lüge musste ich bis heute leben, aber heute ist der Tag, an dem ich mich offenbaren möchte: bei mir reicht eine schöne Frau, um mich vom Staatsfeind zum angepassten Wurm zu machen. Das ist bis heute so geblieben.

2022 war wieder Zensus. Ich wurde ausgewählt und habe einen Fragebogen erhalten. Selbstverständlich habe ich die Fragen dieses Mal beantwortet, auch wenn
keine schöne Frau vor der Türe stand, sondern mittlerweile bei mir im Haus wohnt. Vor meinen ehemaligen WG-Freunden, die ich demnächst zum 40-jährigen Jubiläum
treffe, werde ich berichten. Ich muss diese Schuld los werden. Sie werden es mir verzeihen. Oder es bis zu Hause wieder vergessen haben.

Ihr

Christoph Sonntag

Christoph Sonntag schreibt regelmäßig Glossen für Nussbaum Medien

Markus Palmer

Christoph Sonntag schreibt regelmäßig Glossen für Nussbaum Medien

Christoph Sonntag, Kabarettist, Comedian und Entertainer, schreibt zukünftig regelmäßig Glossen für Nussbaum Medien. Mit der „Stiphung Christoph Sonntag“ kümmert er sich um unsere Natur und seine Mitmenschen, speziell um Kinder und Jugendliche. Diese Ziele decken sich in weiten Bereichen mit den Fördergebieten der Nussbaum Stiftung, die sich der Unterstützung der Themenbereiche Jugend & Bildung, Sport & Gesundheit, Ökologie und Kultur annimmt. Beide Stiftungen sind für Ihre finanzielle Unterstützung dankbar, um noch besser helfen zu können.

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