Eigentlich ist Weinheim ein beschauliches Städtchen. Fachwerk, eine verwinkelte Altstadt, der wunderschöne Hermannshof mit Garten und die markante Burgkulisse vor der Bergstraße. Friedlich geht es hier zu. Doch Weinheim hat auch eine dunkle Seite: Seit über 30 Jahren beschäftigen mordende Frauen (und manchmal auch Männer) auch die Weinheimerinnen und Weinheimer  – zum Glück nur auf Papier. Dass Weinheim heute auch als „Crimeheim“ bekannt ist, verdankt die Stadt wohl Ingrid Noll. Mit ihrem Erstlingswerk „Der Hahn ist tot“ machte die Weinheimerin 1991 erstmals von sich reden und sie ist seitdem nicht mehr als der deutschen Literaturlandschaft wegzudenken.

Seitdem gehört die „Lady of Crimeheim“ zu den meistgelesenen Schriftstellerinnen Deutschlands. Hintersinnig, sprachgewandt und mit einer großen Portion schwarzem Humor schildert sie in ihren Krimis menschliche und zwischenmenschliche Abgründe. „Gruß aus der Küche“ lautet der Titel ihres 18. Romans, erschienen im Januar 2024. Anlässlich ihres 30. Schriftstellerinnenjubiläums hatte uns die Autorin, die im September 2024 ihren 89. Geburtstag feiert, zum Gespräch bei Kaffee und Keksen eingeladen – eine Einladung, die wir gerne angenommen haben.

Video: Blitz-Talk - 10 kurze Fragen an Ingrid Noll

LOKALMATADOR.DE (LM): Frau Noll, 1991 erschien Ihr Erstling „Der Hahn ist tot“ – wenn Sie zurückblicken auf die letzten drei Jahrzehnte – erstaunt Sie Ihre Karriere?

Ingrid Noll: Ja, ich wundere mich immer wieder, denn es war eigentlich nur ein Experiment. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass mein Hahn überhaupt gedruckt würde. Als kleines Mädchen sagte ich zwar, ich möchte gern Bücher schreiben, aber als ich merkte, man wird belächelt, habe ich meinen Wunsch sehr lange verdrängt. Und ich hatte auch anderes zu tun, mit drei Kindern, meiner Mitarbeit in der Praxis meines Mannes und meiner Mutter, die ich bis zu ihrem 106. Lebensjahr gepflegt habe. Es war immer viel Arbeit, dazu hatte ich kein eigenes Zimmer. Dann zogen die Kinder aus, und das Zimmer war da. Ich wusste erst gar nicht, ob ich überhaupt ein Buch schreiben kann, oder ob ich nach 30 Seiten schon das Handtuch schmeiße. Zum Glück war es aber nicht so, es machte mir immer mehr Freude. Das Ergebnis zeigte ich zunächst nur meinem Mann, meinen Schwestern und Kindern. Sie haben mich ermutigt, das Manuskript wegzuschicken.

LM: Haben Sie das Buch mehreren Verlagen angeboten?

Noll: Nein. Ich ging zu meinem Buchhändler, der damals noch dicke Kataloge besaß, und habe mir etwa 10 Verlags-Adressen aufgeschrieben. Zuhause dachte ich dann: O Gott, jetzt muss ich alles kopieren und wegschicken, jede Menge Portokosten! Lieber probiere es mal nur mit einem Verlag, dem besten. Ich besaß nämlich viele Bücher von Diogenes. Und aus Zürich hieß es dann relativ schnell, ich solle es vorläufig nicht woanders hinschicken, der Verleger wolle es selbst lesen. Nach 10 Tagen rief dann der Verleger Daniel Keel an und unterhielt sich über eine Stunde lang mit mir. Er war richtig neugierig, wollte viel von mir wissen und fragte, ob es wirklich mein erstes Buch sei, es komme ihm sehr professionell vor. Das war für mich eine ganz neue Welt.

LM: Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Lesung?

Noll: Die allererste Lesung war in Mannheim. Ich hatte Riesenangst und befürchtete, ich würde in Ohnmacht fallen ...

LM: Warum?

Noll: Ich war es nicht gewohnt, vor der Öffentlichkeit zu reden. Aber ich merkte bald, dass man mir nichts Böses wollte. Und dass es auch nicht schlimm ist, wenn man mal auf eine Frage keine Antwort weiß. Ich kann ja auch nicht zu allem einen Kommentar abgeben.

Schwetzingen: Lesung mit Ingrid Noll im Theodor's

jr

Vor Lesungen wie hier in Schwetzingen ist Ingrid Noll nach 30 Jahren Autorinnentätigkeit nicht mehr bange.

LM: Sie haben einmal gesagt, dass das Abgründige im Zwischenmenschlichen manchmal Bahn bricht, für Sie ein aufregendes Thema sei. Was genau ist denn das Faszinierende daran?

Noll: Die Abgründe interessieren nicht nur mich, sondern auch die Leser. Wir sind ja nicht von Geburt an gute Menschen, sondern müssen erst einmal ein moralisches Verhalten erlernen. Kleine Kinder neigen schon mal dazu, Tiere zu quälen oder sich im Sandkasten die Schaufel auf den Kopf zu hauen. Sich anständig zu benehmen ist ein Lernprozess. Doch im Unterbewusstsein lauert manchmal eine unbändige Wut auf jemanden, der einem etwas weggenommen hat, einen beleidigt hat. Das ist ganz normal. Auf einen Einbrecher hätte ich zum Beispiel eine ziemliche Wut. Man hört selbst völlig harmlose Menschen sagen, dass sie zum Beispiel ihren Vermieter glatt umbringen könnten, weil er die Miete wieder erhöht hat. Oder sie könnten ihren Chef glatt erwürgen. Das macht dann aber zum Glück fast keiner. Zum Glück gibt es  Gesetze, die uns verbieten, Regeln zu brechen, die aber unsere rachsüchtigen Gefühle nicht unterbinden können.

LM: Ihre Bücher sind ja oft keine typischen Krimis …

Noll: Das steht auch nie drauf …

LM: … und Ihre Kurzgeschichten kommen auch mal ohne Mord aus - in „In Liebe dein Karl“ haben Sie auch viel Autobiografisches verarbeitet, auch „Gruß aus der Küche“ ist jetzt kein klassischer Krimi. Ist es manchmal Zeit, sich nochmal neu zu erfinden?

Noll: Ja. Auf jeden Fall. Ich habe auch jedes Mal andere Protagonisten, weil ich keine Serienfiguren haben möchte. Von einigen Kollegen weiß ich, dass sie das Dauerpersonal irgendwann mal leid werden. Für mich ist es spannend, mir immer neue Menschen auszudenken. Es gibt da eine große Palette an Möglichkeiten.

LM: In „Kein Feuer kann brennen so heiß“ skizzieren Sie nebenbei auch ein aktuelles Thema: Die Arbeit von Menschen in der Altenpflege. Wie viel Recherche – aber auch wie viele eigene Erfahrung - war da nötig bzw. ist da eingeflossen?

Noll: Meine Mutter lebte bis ins hohe Alter hier bei uns, von ihrem 90. bis 106.  Lebensjahr. Da habe ich alle Stufen des Abbaus mitbekommen, auch als schließlich der Pflegedienst zweimal am Tag vorbeikam. Für die restliche Zeit waren ich oder mein Mann zuständig. Deshalb kenne ich Pflege auch aus nächster Nähe und weiß, dass man viel Geduld braucht und es harte, körperliche Arbeit bedeutet.

LM: Was immer wieder auffällt: Sie legen viel Wert darauf, die Psyche und Biografie Ihrer Figuren auszubreiten – quasi aus der Außenperspektive in die Innensicht. Wie kann man sich denn die Entstehung eines solchen Charakters vorstellen?

Noll: Wenn ich ein neues Buch beginne, fange ich mit den Personen an. Als erstes brauche ich ihr Alter. Jeder Lebensabschnitt ist spannend, da gibt es für mich keine Unterschiede. Da ich nun selbst alt bin, kann ich mich in alle Altersstufen einfühlen, ich weiß, wie alte Menschen empfinden und mag den Kontakt mit jungen Leuten. Man muss sich für Menschen und auch für die Probleme der Generationen interessieren. Ich habe also die Personen schon einigermaßen im Kopf, bevor ich anfange. Meine Helden dürfen nie ganz glatt gestrickt sein, sondern müssen Ecken und Kanten haben, etwas neurotisch sein. Würde ich eine glückliche Frau, die alles hat, was sie sich wünscht, als Protagonistin nehmen, dann ergäbe das keinen Krimi.

LM: Wären Sie auch eine gute Psychologin geworden?

Noll: Vielleicht, ich wäre ja ganz gern eine geworden. Meine verstorbene Schwester war Psychotherapeutin und hat mich früher gut beraten. Ich schreibe ein wenig wie eine Schauspielerin, die in eine Rolle hineinschlüpft, deshalb auch die Ich-Form. Es gelingt mir besser, wenn ich mich frage, wie ich als diese Frau in einer bestimmten Situation denken, empfinden und handeln würde.

LM: Warum sind es eigentlich meistens Frauen, die Sie morden lassen?

Noll: In Kurzgeschichten habe ich auch mal versucht, Männern das Wort zu erteilen. Dabei stellte ich fest, dass mir das nicht ganz so gut gelingt. Ich hatte immer gute Freundinnen, Schwestern, eine Tochter, die mir das Herz ausgeschüttet haben. Deswegen kann ich Frauen besser verstehen. Natürlich rede ich auch viel mit meinem Mann, den Söhnen und Freunden, aber die neigen weniger dazu, ihre Gefühle offen zu legen.

LM: Spannend ist, dass Sie Ihre Protagonist:innen manchmal gar nicht mögen. Entwickelt man nicht doch manchmal auch heimliche Sympathien für die Heldinnen bzw. Anti-Heldinnen?

Noll: Mehr oder weniger. Sie sind nicht unbedingt meine Freundinnen, an denen ich hänge. Aber ich verachte sie auch nicht. Manche mag ich mehr, manche weniger, das ist unterschiedlich. Zum Beispiel dachten viele, dass ich die Apothekerin, die ja sehr bekannt geworden ist, besonders schätze. Nein. Sie ist eine Pedantin, die alles superordentlich haben muss, das liegt mir gar nicht. Auch Geiz ist mir völlig fremd. Aber ich kann solche Charaktere trotzdem beschreiben.

Ingrid Noll in ihrem Haus in Weinheim

jr

In ihrem Weinheimer Haus fühlt sich Ingrid Noll wohl.

LM: Einige Ihrer Bücher wurden ja verfilmt. Wenn man Autorinnen und Autoren im Nachgang fragt, ob Sie mit dem Ergebnis zufrieden sind, herrscht da oft eitel Uneinigkeit. Wie sehen Sie das? Haben Ihnen Ihre Buchverfilmungen gefallen?

Noll: Wenn ich die Verfilmung zum ersten Mal sehe, denke ich immer: Nein, falsch, verkehrt, das ist nicht mein Buch. Die sehen nicht so aus! Und das geht dem Leser ja auch ganz ähnlich. Denn jeder zieht Vergleiche mit Menschen, die er bereits kennt, jeder hat schon fertige Bilder im Kopf. Mit etwas Abstand erkenne ich schließlich auch die Qualitäten, denn es ist nun mal ein anderes Medium. Also kann man einen Film gar nicht so machen, wie er in meinem Kopf aussah. Schließlich fällt mein Urteil milder aus. Im Übrigen sind die Filme sowieso unterschiedlich gut gelungen.

LM: Aber es war jetzt kein Totalausfall dabei?

Noll: Einer war etwas zu klamaukig. Lustig darf’s durchaus sein, ich mag’s schon, wenn auch gelacht werden kann. Beim Schreiben fällt mir fast immer eine komische Szene ein. Aber bitte kein Bauerntheater.

LM: Welchen bislang unverfilmten Buchtitel würden Sie denn gerne verfilmt sehen?

Noll: Ich könnte mir es bei jedem Buch vorstellen. Aber es gibt da auch folgendes Problem: Der Hauptkinogänger ist statistisch gesehen männlich, zwischen 18 und 38. Wenn man den anlocken will, muss eine Frau die Hauptrolle spielen, die sexy und attraktiv ist. Wenn ich aber ein hässliches Entlein thematisiere, dann zieht das das Publikum nicht an.

LM: Lesen Sie eigentlich selbst immer noch viel?

Noll: Leider immer weniger, weil die Augen nicht mehr mitspielen. Das Lesen strengt mich an. Bei mir stapeln sich die Bücher, ich bekomme auch oft das neueste Werk von Kolleginnen und Kollegen. Ich habe schon ein schlechtes Gewissen.

LM: Schon mal mit Hörbüchern probiert?

Noll: Ich schlafe immer schnell ein (lacht). Das ist so, wie wenn die Mama eine Gutenachtgeschichte vorliest. Vielleicht müsste ich das noch lernen.

LM: Seit einiger Zeit sind Sie Ehrenkriminalhauptkommissarin der Mannheimer Polizei. Wie kam es denn dazu?

Noll: Im Wohnzimmer hängt die Polizeimütze, die sie mir vorbeigebracht haben. Meine Kollegen aus der Region und ich machen einmal im Jahre im Mannheimer Polizeipräsidium eine Lesung zugunsten des Weißen Rings. Der Polizeichef ist Krimi-Fan und als er erfuhr, dass ich Bonner Ehrenkommissarin bin, meinte er, dass nun eine Beförderung fällig sei. Jetzt bin ich also Ehrenkriminalhauptkommissarin.

LM: Sie haben mit 14 Shanghai verlassen müssen, auf der Flucht vor Maos Truppen – wie hat sie dieses Erlebnis geprägt?

Noll: Das Ankommen in Deutschland war ein Schock. Wir hatten von den Eltern, die immer etwas wehmütig von der Heimat sprachen, ein märchenhaftes Bild übernommen. Ein Land voller Schwarzwaldtannen, Fachwerkhäuschen und Kuckucksuhren. 1949 war Deutschland aber noch teilweise zerstört. Europäer in China hatten Personal, in Deutschland musste meine Mutter selbst kochen – und konnte es nicht, zudem gab es Lebensmittelmarken, alles war knapp. Es schmeckte scheußlich, wir haben alle nur rumgemeckert. Außerdem waren wir falsch angezogen.

LM: Fühlten Sie sich da fremd?

Noll: Wir waren eben fremd. Es war allerdings nicht so problematisch wie bei heutigen Flüchtlingen, die kein Deutsch sprechen – das konnten wir ja wenigstens. Aber die Schule war die reinste Katastrophe. Folterinstrumente wie Barren und Reck hatte ich noch nie gesehen. In Englisch und Deutsch war ich zwar etwas besser als die anderen, aber Mathe war eine Katastrophe! Abgesehen davon sprach ich kein zeitgemäßes Deutsch, weil ich nur altmodische Bücher gelesen hatte. Wir hatten ja keine modernen Kinderbücher, die wenigen waren veraltet und gebraucht gekauft. Ich sagte zum Beispiel ‚wohlan denn‘. Und die anderen dachten sicher, was ist das denn für ein schräger Vogel? Mit 14 will man ja nur dazugehören. Ich wollte unbedingt Freundinnen haben und gab mir große Mühe, mich anzupassen. Das ist auch gelungen. Nach einem Jahr war es geschafft.

Video: Weinheims Lieblingsplätze - Ingrid Noll im Hermannshof

LM: Sie haben gesagt, dass Sie so lange schreiben werden, wie Sie sich wohl fühlen – Wann wäre der Punkt gekommen, zu sagen – jetzt leg ich den Stift weg (bzw. schalt ich den Computer aus)?

Noll: Nun, ich hoffe immer noch, dass man mich darauf aufmerksam macht, wenn ich nachlasse. Und zwar bevor man mich mitleidig belächelt. Es gibt bereits Materialermüdung zu beklagen– noch nicht bedrohlich, aber das zweite Ersatzteil war fällig: nach der Brille jetzt das Hörgerät. Andere in meinem Alter brauchen neue Hüft- und Kniegelenke, das kommt vielleicht irgendwann auch auf mich zu. Manchmal fällt mir etwas nicht ein, das ärgert mich dann sehr. Aber man kann ja den Abbau nicht einfach ignorieren. Ewig geht eben nichts weiter.

LM: Nichtsdestotrotz - Ihr Buch "Tea Time" spielt in Weinheim. Wie werden die Weinheimer das wohl finden?

Noll: Die werden sich freuen. Vor allem die Touristik.

LM: Holen Sie sich da auch Inspiration?

Noll: Ich kann meine Romane nicht im luftleeren Raum ansiedeln, aber ich schreibe ja andererseits auch keine expliziten Heimatkrimis. Meine Bücher werden im ganzen deutschsprachigen Raum gelesen oder sogar übersetzt. Aber hier ist nun mal mein Zuhause, das macht es leichter für mich. Ich würde ungern über eine Stadt oder ein Land schreiben, wo ich noch nie gewesen war. Und in jeder Idylle lauert natürlich auch das Gegenteil.