Die Schreib- und Lesekompetenz von Jugendlichen und Studenten wird zunehmend schlechter - obwohl wir in einer modernen Kommunikationsgesellschaft leben. Woran das liegt und welche Rolle Medien, Eltern, Schulen und Universitäten spielen, erklärt Dr. Andreas Belwe, Dozent für wissenschaftliches Arbeiten und Business Ethics an der International School of Management (ISM). Sein Fachartikel erschien in der Februar-Ausgabe der Zeitschrift "Psychologie Heute".

Schreiben ist lästig

Ausdauer, Konzentration und Disziplin sind wichtige Eigenschaften, die für das Lesen und Schreiben benötigt werden - heutzutage aber immer seltener anzutreffen sind. "Alles soll möglichst schnell gehen, am besten auf einen Klick zu haben sein", so Belwe, "doch das funktioniert beim Lesen und Schreiben nicht." Schreiben wird als lästige Aufgabe wahrgenommen und nicht als schöpferischer Prozess, bei dem sich neue Gedanken entwickeln. Erschwerend kommt hinzu, dass vielen Studenten die notwendige Übung fehlt. Dabeiß weiß man, dass Schreiben mit der Hand die Entwicklung des Gehirns fördert.

Erhebliche Mängel beim Schreiben

Abgesehen von telegrammstilartigen Mails oder SMS wird über das Studium hinaus kaum geschrieben und selbst hier tauchen erhebliche Mängel auf. Fehlerhafte Grammatik, Interpunktion, Wortwahl und mangelhafte Orthografie - rund 60% der Studierenden haben mit diesen Schwierigkeiten zu kämpfen, schätzt der Dozent. Wenn es darum geht, einen längeren Text, beispielsweise eine Bachelor- oder Masterarbeit zu verfassen, kommen weitere Probleme hinzu: Exakte Themenbestimmung, Gliederung des Textes in Schwerpunkte, Entwicklung einer systematischen und strukturierten Vorgehensweise - auf diese Herausforderungen lassen sich viele Studenten gar nicht erst ein. Stattdessen hoffen sie im Internet fertige Textbausteine zu finden, die sie leicht abgewandelt übernehmen und zu einem Text zusammenfügen können.

Jugendliches Mädchen am Smartphone

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Internet als Werkzeug - nicht als Spielzeug

Durch das Internet hat sich das Lesen und Schreiben stark verändert. "Das Netz ist zweifellos eine geniale Erfindung, das vieles möglich macht. Allerdings muss es Werkzeug bleiben und darf nicht als Spielzeug das Leben des Einzelnen und der Gesellschaft dominieren." Sobald die Informationen gesammelt sind, sollte das Netz aus- und das Selbstdenken eingeschaltet werden - ein Prozess, der heutzutage immer seltener funktioniert. Stattdessen wird wahllos alles aus dem Internet aufgesogen und das in einer Computersprache, die einer exakten Ausdrucksfähigkeit eher abträglich ist.

Übrigens hat sich durch den Lockdown 2020 auch herausgestellt, dass denjenigen, die gut lesen können, das selbstständige Lernen leichter fällt.

Abhängigkeit der Jugend

Die Abhängigkeit von neuen Medien versetzt viele Studenten in einen regelrechten Zustand der Schreckbereitschaft: Mein Smartphone könnte klingeln! Oder eine SMS könnte kommen! Konzentration ist in diesem Zustand undenkbar und angesichts der enormen Beschleunigung in unseren Lebens- und Arbeitsbereichen ohnehin eine große Herausforderung. Eine Gesellschaft, in der vieles auch beliebig geworden ist, erscheint locker. Doch die damit verbundene Vagheit, Vielzahl von Optionen und die Marotte, sich am besten auf nichts festlegen zu wollen, schlägt sich in der Sprache nieder. "Wir bewegen uns in einer sprachlichen Grauzone, in der wenig konkret werden kann", so Belwe. Deshalb dürfe man sich nicht wundern, wenn Schüler und Studenten "irgendwie" schreiben - in der Hoffnung, dass Lehrer und Dozenten ahnen, was gemeint ist.

Lesen und Schreiben anhand der klassischen Medien

Die neuen Medien haben nicht nur das Kommunikations-, sondern auch das Lese- und Schreibverhalten revolutioniert. Doch für die sich verschlechternden Lese- und Schreibkompetenzen sind sie nicht allein verantwortlich. Die Erziehung im Elternhaus spielt eine ebenso wichtige Rolle. "Eltern müssen ihren Kindern vorleben, wie wichtig Lesen und Schreiben ist. Das beinhaltet mit den Kindern zu lesen, zu schreiben und vor allem zu sprechen."

Doch das kommt in vielen Familien zu kurz - ein Defizit entsteht, das die Schulen nicht mehr ausgleichen können. Aber sie können mehr mit dem klassischen Medium Buch arbeiten und den souveränen Umgang mit neuen Medien trainieren. Gleichzeitig müssen Eltern, Schulen und Hochschulen größeren Wert auf die Sprache legen. "Die Förderung der Persönlichkeitsentwicklung der Studierenden ist Aufgabe einer Hochschule. Dazu zählen auch sprachliche Kompetenzen, denn wer führen will, muss nicht nur ein Gespräch führen, sondern auch federführend sein können."

Gemeinsames Lernen

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Freude am Arbeiten mit Texten hat große Bedeutung

Basierend auf seinen langjährigen Erfahrungen hat Dr. Andreas Belwe ein Konzept entwickelt, das Lese- und Schreibfähigkeiten trainiert und aus vielen praktischen Übungen sowie Kreativitäts- und Strukturierungstechniken besteht. Ein Ziel besteht darin, den Studierenden die Scheu vor dem Lesen und Schreiben zu nehmen. "Viele Studenten meinen, sie müssten kritische Auseinandersetzungen mit einem Text in den Worten des gelesenen Autors schreiben. Auf diese Weise wird aber nichts reflektiert, sondern lediglich reproduziert - und obendrein nichts behalten. Ich bringe die Studierenden dazu, dass sie ein grafisches Gebilde als eigenen Text anfertigen und die neuen Informationen mit dem bereits bestehenden Wissen verknüpfen. Damit entsteht Wissen, das auch behalten wird."

Dem Dozenten geht es dabei auch darum, dass die Studierenden neu Gelesenes in ihr eigenes Denken "übersetzen" und ihre Sprache entwickeln, die sie wiederum fürs Schreiben benötigen. Diesen Prozess übt Belwe, indem er einen Text lesen und gleich danach etwas dazu schreiben lässt. "Dieser Schritt bereitet vielen erhebliche Mühe und schon schwindet die Motivation. Knüpft aber daran eine bestimmte Fragestellung und wird für die Übung eine Kreativitäts- oder Strukturierungstechnik eingesetzt, entsteht plötzlich eine erstaunliche Dynamik: Der Text kann erschlossen werden, man entdeckt neue Verbindungen, findet eine eigene Sprache dafür und ganz nebenbei beginnt die Arbeit mit Texten Freude zu machen. Und Freude ist ein starker Motivator, der wiederum die Verstehenslust weckt. Ohne diese psychologischen Momente funktionieren solche Prozesse kaum."

Wie sich die Lese- und Schreibkompetenz zukünftig entwickeln wird, hängt also von zahlreichen Faktoren, aber auch von jedem einzelnen ab. Auf sprachliche Fähigkeiten wird die moderne Welt nicht verzichten können. Je mehr Menschen mit Sprache umzugehen wissen, desto mehr Möglichkeiten werden sich eröffnen. "Wer diese Möglichkeiten will, wird an seiner Lese- und Schreibkompetenz arbeiten. Ich persönlich vertraue auf die Selbstregulation der Individuen - allerdings unter kompetenter Anleitung", resümiert Belwe.