Spuren von gestern auf Wegen von heute

Grenzen sind dazu da, um überwunden zu werden – dieser Gedanken kommt jedem spontan in den Sinn, der als Grenzgänger auf dem „Grenzgänger“ unterwegs ist. So heißt nämlich ein Premium-Wanderweg mit Start und Ziel in Gailingen am Hochrhein. Damit ist auch klar, um welche Grenze es sich handelt: die zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizer Eidgenossenschaft. Oder zwischen dem Ländle und dem Kanton Thurgau. Und ganz im Kleinen zwischen der Gemeinde Gailingen im Kreis Konstanz und der Stadt Diessenhofen im Bezirk Frauenfeld.

Rüber, nüber und z’rück: Über-Gänge auf Schusters Rappen

Es ist schon verlockend (und lohnend), einen Abstecher über den Rhein zu machen, entweder gleich zu Beginn oder viel besser am Ende der Tour. Zumal der Weg dorthin (und wieder zurück) überaus romantisch ist. Führt er doch über eine seit mehr als 200 Jahren überdachte Holzbrücke. Zwei Autos schaffen es nicht aneinander vorbei, sodass immer eine Fahrtrichtung warten muss. Wanderer und andere Fußgänger freilich können immer drüber.

Blick über den Rhein nach Diessenhofen in der Schweiz

MEIN LÄNDLE/Wulf Wager

Diessenhofen hat sein prächtiges Ortsbild seinen wohlhabenden Ackerbürgern zu verdanken.

Korn, Salz, Wein & Äpfel …

Sein heute noch begeisterndes Ortsbild ist den „Ackerbürgern“ zu verdanken, die es bis ins 19. Jahrhundert durch ihren Wohlstand prägten. Die Felder ringsum waren überaus fruchtbar, Diessenhofen galt als „Kornkammer des Thurgaus“ und spielte für die Versorgung der nahe liegenden Städte, vor allem Schaffhausen und Zürich, eine wichtige Rolle. Da ließ sich gutes Geld verdienen. Weitere Einnahmequellen ergaben sich durch die Lage an der Grenze: Bis 1848 waren nämlich Brücken- und Durchgangszölle fällig. Nicht zuletzt der Salzhandel spülte einiges in die Kasse.

Schon im 9. Jahrhundert wird der Weinbau in Diessenhofen erwähnt. Und der verbindet die Regionen am Hochrhein: Gleich zu Beginn führt der Premiumwanderweg nämlich an den Rebhängen der Ritterhalde entlang. Insgesamt vier Weinbauern sorgen auf 25 Hektar auf Markung Gailingerstrasse für herausragende Qualität. Da spielt die Grenze übrigens so gut wie keine Rolle. Zum Staatsweingut Meersburg, dem Gut Schloß Rheinburg der beiden jungen Winzer Lorenz Keller und Julian Moser sowie dem Weingut Zolg mit eigener Kellertechnik und Besenwirtschaft gesellt sich die Weinkellerei von Marlies Keller und Beat Schindler aus Schaffhausen. Ist ein „Weinzahn“ unter den Wanderern, wird er seine helle Freude daran haben und ausprobieren, welche der sieben Rebsorten von der Gailinger Markung nun am besten schmeckt: Müller-Thurgau oder Weißburgunder? Grauburgunder oder Cabernet Mitos? ­Chardonnay oder ­Auxerrois? Oder doch der Spät­burgunder?

Das nächste Highlight folgt auf dem Fuße, eine herrliche Streuobstallee mit 20 verschiedenen Apfel- und Birnensorten. Ganz genau hinschauen lohnt beim ersten Baum links. Der trägt nämlich gleich 20 verschiedene Apfelsorten auf einem einzigen Stamm: Gravensteiner und Roter Zigeunerapfel, Kaiser Wilhelm und Goldparmäne, Gelbe Eisenrenette und Cox Orange, Gelber Richard und Rote Walze, Idared und Westfälischer Gulderling … das sind noch lange nicht alle.

Ritterhalde Weinberg

MEIN LÄNDLE/Jürgen Gerrmann

Trauben für herrlichen Wein gedeihen an den Hängen der Ritterhalde.

Kirchenguckloch & Räuberliesel

Die etwas später leicht versteckt am Wegesrande liegende Nikolauskapelle ist aus zweierlei Gründen interessant. Auch hier geht es um überschrittene Grenzen. Ihr ältester (romanischer) Teil stammt noch aus dem 11. Jahrhundert. Später gehörte sie zum Besitz des Klosters Sankt Katharinental in Diessenhofen. Die Dominikanerinnen ließen sie vergrößern und stifteten einen wunderschönen Renaissancealtar.

Wer nicht über die angeschlagene Telefonnummer den Schlüssel besorgt hat, kann das Schmuckstück durch ein Guckloch in der Eingangstür bewundern. Später kam auch noch eine eindrucksvolle Rokoko-Stuckatur dazu. Kein Wunder also, dass die Kapelle für viele der Sehnsuchtsort für ihre Trauung ist.

Obstbäumchen im Hegau

MEIN LÄNDLE/Jürgen Gerrmann

Ganz in der Nähe wachsen an einem einzigen Obstbäumchen 20 verschiedene Sorten. Und am Wegesrand stößt man auf Grenzsteine aus den verschiedensten Epochen.

Die zweite Geschichte hat mit überschrittenen Grenzen des Gesetzes zu tun. Gleich daneben befand sich nämlich ein Räubernest der Bande der Alten Lisel – einer der ganz wenigen heute noch bekannten Verbrecherinnen, die im Barock zur Chefin eines solchen Clans avancierten. Ihre ersten vier Ehegatten (ein Falschspieler und drei Räuber) fanden sämtlich auf dem Richtplatz ihr Ende. Mit ihrem fünften und ihrer 15-jährigen Tochter plus einer fahrenden Bande von Männern und Frauen zog Elisabeth Frommerin (so ihr eigentlicher Name) rund um den Bodensee und den Rhein.

Auf Jahrmärkten und Messen fand sie das ideale Terrain für ihre Spezialität: „Beutelschneiden“ und „Sackgreifen“; Taschendiebstahl also. Die Männer hielten es lieber mit schweren Einbrüchen und saßen vorzugsweise im Wirtshaus. Jahrelang ging das gut, bis sie 1732 dann festgenommen wurde. Fünf Monate hielt sie den Verhören stand und gab erst auf, als man ihrer Tochter zusetzte. 500 Seiten umfassen die Verhör- und Prozess­protokolle aus ihrer Haft in Salem. Mit 42 Jahren wurde auch sie dem Scharfrichter übergeben.

Grenzstange Deutschland - Schweiz

MEIN LÄNDLE/Jürgen Gerrmann

Im Wald ist die Grenze derweil kaum erkennbar – zum Beispiel nur an zwei Stangen in den Landesfarben.

Das Grenzstein-ABC

Danach wartet eine wahre Perlenkette an Grenzsteinen aus den verschiedensten Epochen. Das lässt sich gut an den diversen Aufschriften ablesen: Da finden sich nicht nur die altbekannten CH für die Schweiz und D für Deutschland, sondern auch CS für den Canton Schaffhausen oder GB für das Großherzogtum Baden, das G für Gailingen und das R für das benachbarte Schweizer Ramsen. Hinzu kommen die Jahreszahlen der Grenzmarkierungen, etwa 1839, 1885, 1935 oder 1980, und die fortlaufenden Nummern der Steine. Ihnen folgt man auf manchen Passagen schnurgerade durch den Wald.

So richtig sicht- und spürbar ist diese Grenze gleichwohl nie. Nur eine schwarz-rot-goldene Stange und ihr rot-weißes Pendant auf einem Radweg weisen darauf hin, dass ein längeres Stück Weg auf dem Territorium der Eidgenossenschaft folgt, die hier über das Rheinufer hinaus gen Norden reicht. Die Wander- und Radwege sind hie wie dort sowohl im deutschen wie im Schweizer System markiert, und da sticht es einem förmlich ins Auge, welches hohe Niveau die Eidgenossen nicht zuletzt bei ihrem Radwegenetz haben. Sowohl der Rheinradweg als auch der EuroVelo 6 vom Atlantik zum Schwarzen Meer führen hier durch – exzellent markiert.

Eine veritable Grenzgängerin ist auch die Biber, auf deren Tal man von einer Anhöhe am Waldrand aus blickt. Auf ihren lediglich 31 Kilometern von der Quelle bei Watterdingen im Kreis Kon­stanz zur Mündung in den Rhein an der Bibermühle ganz in der Nähe muss sie gleich fünfmal von einem Land ins andere. Der 715 Meter hohe Schienerberg am Horizont steht ihr in nichts nach: Ihn teilen sich die deutschen Kommunen Rielasingen-Worbingen, Singen, Moos, Gaienhofen und Öhningen mit Stein am Rhein, Hemishofen und Ramsen in der Schweiz.

Grenze zwischen Deutschland und der Schweiz im Wald

MEIN LÄNDLE/Jürgen Gerrmann

Schweizer Grenzstange.

Am Horizont zeichnet sich auch die Eisenbahnbrücke über den Rhein zwischen Hemishofen und Wagenhausen ab. 1875 wurde sie mit der Bahnlinie zwischen Winterthur im Kanton Zürich und Singen am Hohentwiel eröffnet und verband somit die Schweiz mit dem Großherzogtum Baden. Nur 94 Jahre lang fuhren hier Personenzüge im Regelbetrieb. Auch einem Comeback mit Güterzügen in den 1970er-Jahren war kein Erfolg beschieden. Benutzt wird das denkmalgeschützte Objekt indes dennoch: Der Verein zur Erhaltung der Eisenbahnlinie Etzwilen–Singen lässt hier im Sommer Dampfzüge fahren.

Was die IG Dinkel sät …

In diese geschichtsträchtige Szenerie eingebettet liegen fruchtbare Felder, auf denen die landwirtschaftliche Tradition der Region am Hochrhein auch heute noch blüht und gedeiht. Schweizer Bauern bauen Ur-Dinkel an, der über 3000 Jahre hinweg für die Nahrung der Menschen in diesen Gefilden eine ganz zentrale Rolle spielte. Vor gut hundert Jahren wuchs er in der Schweiz noch auf 16 000 Hektar, Ende des 20. Jahrhunderts nur noch auf 1000. Der Grund: Die Landwirtschaft wurde immer mehr mechanisiert, und der Weizenanbau verdrängte das althergebrachte Getreide. Der Dinkel, der übrig blieb, war zumeist mit Weizen gekreuzt, um noch einigermaßen zu einem Ertrag zu kommen. Fast wäre es also um den Ur-Dinkel in der Schweiz geschehen gewesen, hätten nicht vor 28 Jahren engagierte Bauern und Müller die IG Dinkel gegründet. Die anfängliche Mitgliederzahl von 230 hat sich mittlerweile mehr als verzehnfacht. Sie alle haben sich verpflichtet, nur alte, nicht mit Weizen gekreuzte Sorten anzubauen. Deren Halme sind extrem lang. Das bringt mit sich, dass man sie quasi nicht düngen darf, da sie sonst bereits vor der Blüte umknicken. Die Folge: Der Ertrag ist niedriger als im herkömmlichen Getreideanbau.

Aber dank dieser bewussten Entscheidung kann man diesen Dinkel noch so genießen wie einst Hildegard von Bingen. Die rühmte ihn als „das beste Getreide, fettig und kraftvoll und leichter verträglich als alle anderen Körner“. Gesund sei er zudem: „Er verschafft dem, der ihn isst, ein rechtes Fleisch und bereitet ihm gutes Blut. Die Seele des Menschen macht er froh und voll Heiterkeit. Und wie immer zubereitet man ihn isst, (sei es als Brot, sei es als andere Speise), ist er gut und lieblich und süß.“

Dinkelfeld bei Ramsen

MEIN LÄNDLE/Jürgen Gerrmann

Auf den fruchtbaren Feldern bei Ramsen wächst der Ur-Dinkel prächtig.

Es war einmal …

Mal durch Wald, mal durch herrliche Wiesen mit imposanten Solitärbäumen geht es zurück nach Gailingen. In der Ortsmitte wartet zuletzt ein beklemmender Moment: Den nun leeren Platz zu sehen, auf dem einst die jüdische Syna­goge stand, kann einem schon nahe­gehen. Zumal der Ort auf eine blühende jüdische Vergangenheit zurückblicken kann. 1657 war dort sechs Juden erstmals ein Schutzbrief ausgestellt worden, knappe 100 Jahre später lebten bereits 28 jüdische Familien dort. Der Rabbiner Salomon Wolf Levi wirkte von 1775 bis 1825 von hier aus als Landesrabbiner, zur selben Zeit wurde eine neue Judenschule errichtet. 1858 waren mit 996 Menschen sogar mehr als die Hälfte der Gailinger jüdischen Glaubens.

Als deren rechtliche Gleichstellung überall gesichert war, wanderten immer mehr Juden in die Städte ab. 1905 betrug ihr Bevölkerungsanteil aber immer noch gut ein Drittel, zu Beginn der Nazi-Herrschaft noch ein Fünftel. Am 10. November 1938 wurde die Synagoge niedergebrannt, und am 22. Oktober 1940 wurden alle noch in Gailingen wohnenden Juden wie sämtliche Glaubensgeschwister in ganz Baden nach Gurs in Südfrankreich deportiert. Die reiche Geschichte der Juden im Ort wird im Jüdischen Museum in der früheren Judenschule eindrucksvoll dargestellt. Dort befindet sich auch ein ehemaliges Ritualbad.

Für die, die diese Wanderung nicht allzu nachdenklich ausklingen lassen möchten, sei noch ein Abstecher an den Rand des Nachbarortes Büsingen (einer deutschen Exklave) empfohlen. Um den Gasthof Waldheim rankt sich eine nette Grenz-Geschichte: 1901 suchte der evangelische Pfarrer Schulze aus Lüne­burg einen Alterssitz. Am Hochrhein gefiel es im hervorragend, nur hatte er ein Problem: Hätte er sich in der Schweiz niedergelassen, wäre ihm seine deutsche Pension gestrichen worden. Aber der Gute war clever: Er baute sein Wohnhaus fast auf der Grenzlinie. Der Garten mit dem herrlichen Blick auf den Fluss war schon in der Schweiz. Mittlerweile wurde das Fleckchen Erde zur Gartenwirtschaft. Quer durch selbige verläuft die Landesgrenze. Daher lassen sich im Waldheim selbst beim „Prosit“ Grenzen überwinden …

Grenzgänger Wanderweg Hegauer Kegelspiel

MEIN LÄNDLE

Hegauer Kegelspiel – Der Grenzgänger

Start und Ziel: Parkplatz Rhein­uferpark in Gailingen
Strecke: 13 km (ohne Abstecher nach Diessenhofen)
Höhenunterschiede: je 150 m Auf- und Abstieg
Gehdauer: ca. 4 Stdn.
Schwierigkeitsgrad: leicht

Infos:
www.gailingen.de
www.hegau.de
www.bodenseewest.eu