Wenn am Münster mal nicht mehr gebaut wird, sagen die Ulmer, geht die Welt unter. Und tatsächlich war seit Jahrhunderten das Münster quasi nie ohne ein Gerüst zu sehen. Damit die Welt in der Donaustadt nicht untergeht, leitet seit 1377 eine ununterbrochene Folge von Baumeistern die Münsterbauhütte.
Video: Die Münsterbauhütte
Im Februar 2021 hat Heidi Vormann die Position angetreten. Sie ist die Nummer 22 in der historischen Zählung und die zweite Frau auf diesem besonderen Posten. Die Architektin aus Bamberg setzte sich seinerzeit gegen mehr als 20 Bewerber aus dem ganzen Bundesgebiet durch. Entsprechend groß waren das öffentliche Interesse und der Presserummel nach ihrer Ernennung. Kein Wunder. Den Ulmern, das weiß sie, ist ihr Münster immens wichtig: „Sie lieben es“, sagt sie schlicht. „Und es gibt hier keinen, der keine Geschichte mit dem Münster hat.“
Mit Schreibtisch, Schlüssel und Wohnung
Als gelernte Bauzeichnerin und -technikerin, studierte Architektin mit Schwerpunkt Denkmalpflege und mit einer Doktorarbeit zur Restaurierung alter Synagogen brachte sie den richtigen theoretischen Hintergrund mit. Genau wie praktische Erfahrung im Planen, Einrichten und Leiten von großen Baustellen. Zuletzt war sie in Bamberg als Dekanatsarchitektin für die Sanierung der barocken Stephanskirche zuständig. Das Ulmer Münster kannte sie seit ihrer Jugend, auch die viel gepriesene Arbeit ihres Vorgängers Michael Hilbert, von dem sie Schreibtisch, Schlüsselbund und sogar die Wohnung der Münsterbaumeister übernahm.
Schlaglichter zur Geschichte
Das Ulmer Münster ist der größte evangelische Kirchenbau Deutschlands, Mittelpunkt der Stadt Ulm und ihr weithin sichtbares Wahrzeichen. Kein Fürst oder Bischof begann 1377 mit dem Bau, sondern selbstbewusste Ulmer Bürger waren es. Die bedeutendsten von ihnen sind mit eigenen Familienkapellen vertreten, weitere mit Wandfresken und Inschriften. Nach der Teilfertigstellung 1543 und der Reformation ruhte der Bau für Jahrhunderte.
Erst mit dem Aufsetzen der Turmspitze im Jahr 1890 wurde er in seiner heutigen Form vollendet. Der 161,5 Meter hohe Hauptturm ist der höchste Kirchturm der Welt. Das Münster überstand die Luftangriffe in den letzten Kriegsmonaten 1944/1945 nahezu unbeschädigt. Es zählt heute rund eine Million Besucher im Jahr.
► Ulm – Geschichte trifft auf Moderne
Dennoch hat sie keine Scheu vor großen Fußstapfen. Sie vergleicht sich auch nicht mit früheren Baumeistern. „Unsere Aufgabe ist, ihr Werk zu erhalten.“ Mit „wir“ meint sie ihr Team: 24 Fachleute unterschiedlicher Gewerke arbeiten mit ihr Hand in Hand. Ein gutes Team, auf das sie große Stücke hält: „Ich könnte hier theoretisch verschwinden, wenn der Hüttenmeister da ist“, lacht die 58-Jährige. Als Tochter eines Maurers und Bauzeichners spricht sie die ehrliche, klare Sprache der Handwerker. Das Wichtigste aber für alle, die hier arbeiten: Sie müssen schwindelfrei sein. Heidi Vormann ist es auch, zum Glück: „Aber auf 143 Metern Höhe bekomme auch ich schwitzige Hände; das ist normal.“
Hier am Münster trifft Handwerk, das sich seit dem Mittelalter nur wenig verändert hat, auf moderne Technologie. Heidi Vormann zeigt auf eine Maschine mit riesigem gelbem Teleskoparm, ein 100 Meter hoher Steiger. „Mit dem fahren wir die Fassade ab, Stück für Stück.“ Das ist keine lockere Sache. Vor allem, wenn Windböen kommen. Die Vermessung der einzelnen Steine mit Hilfe eines Lasers schafft die digitale Grundlage für nachzubauende Werkstücke. Mit CNC-Fräsen kommt man hier allerdings nur ein Stück weit: Die Maschine bearbeitet den Naturstein ohne Rücksicht auf seine Beschaffenheit. Deshalb bleibt die Handarbeit eines erfahrenen Steinmetzes unersetzlich. Mit seiner praktischen Erfahrung und dem Gefühl für den Stein kann er bei der Bearbeitung mineralische Einflüsse und poröse Stellen berücksichtigen.
Neue Zeiten, neues Wetter
Wir fahren auf 70 Meter Höhe am Turm hoch, mit Bauleiter Aaron Weißer im luftigen Bauaufzug. Am Münster sind Engagement und Talent gefragt; den atemberaubenden Blick gibt es dazu. Für der 29-jährigen Steinmetzmeister ist es der schönste Arbeitsplatz der Welt: Er zeigt uns, wie sie eine Kreuzblume aufsetzen, wie zentnerschwere schadhafte Bauteile ausgebaut, abgeseilt und maßgefertigte Repliken wieder eingesetzt werden.
Die Kunst dabei: Die Statik muss halten, auch während das Teil fehlt. Für einen Steinmetz ist solch eine Stelle die Krönung, ein Sechser im Lotto. Wie ist es, täglich mit der Arbeit von Berufskollegen aus über sechs Jahrhunderten konfrontiert zu werden? „Meist denkt man schon: sehr gute Arbeit. Aber manchmal eben auch: Da hat es wohl einer eilig gehabt“, schmunzelt der junge Meister.
Der Arbeit ihrer 21 Vorgänger begegnet auch Heidi Vormann. Jede Zeit erfährt ihre eigenen Herausforderungen, die frühere Baumeister nicht kannten. Den Klimawandel etwa. Extreme Wetterlagen sind auch am Ulmer Münster angekommen und machen ihm schwer zu schaffen. „Wir hatten letztes Jahr drei Wirbelstürme; früher war das vielleicht einer im Jahr“, sagt Heidi Vormann. „Da wirken Kräfte da oben auf 100 Metern, das glauben Sie gar nicht. Das rüttelt an den Steinen.“ Deshalb wird jedes Bauteil angefasst. Hält es noch? Sitzt es locker? Ist es bröselig? „Abstürze verhindern – das ist im Moment unser Job.“
Die Stille nach dem Besuchersturm
Abstürze kann es auch im Innern des Münsters geben: Oben am Gewölbe bröckelt der Putz. Die Materialmischung der Restaurierungsarbeiten in den 1970er-Jahren vertrug sich offenbar nicht mit dem alten Putz; das führte zu Spannungen und Rissen. Die hintere Hälfte des Hauptschiffs ist deshalb derzeit gesperrt; ein Gerüst mit Blechdach am Übergang zum Chor sorgt für die Sicherheit von bis zu 7500 Besuchern am Tag. Gerade deren Sicherheit gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Münsterbaumeisterin.
Bei manchen Herausforderungen stand sie schon vor den Portraits ihrer Vorgänger – ihre Steinreliefs zieren die Vorhalle – und dachte sich: Wie hätte er es wohl damals gelöst? Dass sie selbst in einigen Jahren dort prangen wird, beschäftigt die 58-Jährige nur am Rande: „Dann kommt jemand nach mir, mit neuen Aufgaben und neuen Herausforderungen.“
Auch wenn ihr Arbeitstag um spätestens 6.30 Uhr in der Frühe beginnt, mit viel Korrespondenz, Besprechungen und Verwaltungsalltag – sie ist gerne unter Handwerkern. Ihre liebste Zeit kommt aber, wenn alle Besucher gegangen sind und das Münster leer zurücklassen. Dann genießt sie die Ruhe, lässt den Raum auf sich wirken. Das Licht in den filigranen Buntglasfenstern, das 42 Meter hohe Kreuzgewölbe, die Schnitzereien am Chorgestühl, die Stille im Kirchenraum. Doch wenn die Besucher kommen, ist sie ganz für sie da.
Das Gerüst am 161,5 Meter hohen Hauptturm, das seit 17 Jahren steht, will sie bis in drei Jahren abgebaut haben – das sei ihr Ziel, den Ulmern den Blick auf den höchsten Kirchturm der Welt unverhüllt zurückzugeben. „Das schaffe ich“, sagt sie zuversichtlich. Und nein, die Welt wird nicht untergehen, weil kein Gerüst mehr am Münster ist. Denn dann, da ist sich die Baumeisterin sicher, geht es an einer anderen Ecke des Münsters weiter.
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